Seit Hildegard von Bingen* im Mittelalter mehr als 80 Jahre alt wurde, sind wir überzeugt von der Heilkraft der Kräuter
Ganze Menschengenerationen kamen mehr oder weniger gut über die Runden mit äußeren und inneren Anwendungen aus Tee und Sud, Wickeln mit Pflanzen nebst Salben mit Blüten und Blättern. Tropfen zur Stärkung und Heilung oder Kräuter-Elixiere mit und ohne Alkohol haben uns immer wieder auf die Beine gebracht. Nun erleben viele dieser natürlichen Methoden eine Wiedergeburt: Chemie ist out, und die Kräuter-Renaissance boomt ebenso in der Küche. Kein Wunder, dass frisches Grün im Töpfchen neben Obst und Gemüse im Supermarkt zu kaufen ist. Dem Trend schließen sich Baumärkte regalweise gleich mit an. Und wo früher erdige Gewächshäuser standen, ploppen jetzt Gartencenter wie Pilze aus dem Boden - im verführerischen Shoppinglook.
Geschenkwertig: Gartenutensilien aus Edelstahl, rechts Seifen für Naturliebhaber im Silberdöschen - duften nach Wald und Wiese (c) HESSENMAGAZIN.de
Längst ist es Mode geworden, auf das das Kindergartenbrötchen der lieben Kleinen eigenhändig geschnittene Kresse vom Küchenfensterbrett zu streuen. Die Tendenz geht inzwischen sogar zu größeren Blumenkasten- oder Terrassenkübel-Plantagen für Salbei und Rosmarin plus exakt dafür angepassten Saatstreifen für Radieschen & Co..
Dicke Hasen und schwere Schildkröten: Trendige Türstopper aus Naturmaterialien, rechts daneben frühzeitlich anmutende Klemmsteine aus Eisen - made in China (c) HESSENMAGAZIN.de
Egal, mit welchen Methoden die Entwicklung in Gang gesetzt wird, es kann nur gut sein, die Natur in unser Leben zurück zu holen - wenn diese nicht in Laboren herangezüchtet oder auf den Feldern mit chemischen Spritzmitteln vor Ungeziefern "bewahrt" wurde! Um etwas besser zu verkaufen, schreckt die herstellende Industrie nämlich nicht vor Manipulationen zurück. Dagegen ist (noch) kein Kraut gewachsen. Wir am Ende der Kette müssen wachsam sein und bleiben. Denn je weiter der Trend sich durchsetzt, desto mehr besteht die Gefahr, dass Konzerne (und Quacksalber ;-) sich auf den Ökotrend aufsatteln.
* Die Benediktinerin Hildegard von Bingen lehrte, schrieb und forschte - ab 1136 sogar als leitende Äbtissin. Im Bezug auf Gott und ihren Glauben befasste sie sich mit Religion, Medizin, Musik, Ethik und Kosmologie. Dazu predigte sie auf Reisen über Moral und Gott. Das brachte sie in der römisch-katholischen Kirche ausnahmsweise nicht auf den Scheiterhaufen, sondern sie wurde schon zu Lebzeiten wie eine Heilige verehrt. 1147 genehmigte der damalige Papst der selbstbewussten Nonne sogar, ihre Visionen, die zu jener Zeit als Grundlagen von Aussagen und moralischen Lehren anerkannt wurden, zu veröffentlichen.
Als sie die 50 überschritten hatte, gründete sie ein eigenes Kloster und galt als große Universalgelehrte. Sie verfasste mehrere theologische Abhandlungen ("Wisse die Wege"), ebenso wie medizinische Darlegungen zu Krankheiten und Pflanzen. Deren Originale gingen jedoch verloren, es sind nur noch 100 Jahre alte Abschriften und Zitate - natürlich mit allerlei Ergänzungen und Änderungen - aus dem 13. bis 15. Jahrhundert erhalten. Sie enthalten keine selbst entwickelten Behandlungsmethoden. Der Nutzen dieser Werke liegt in der Veranschaulichung von Tatsachen und ganzheitlichen Zusammenhängen sowie der Zusammenstellung von Behandlungsmöglichkeiten verschiedener Quellen - aus Sicht einer mittelalterlichen, auch mystisch geprägten Welt.
Dessen ungeachtet begründete der österreichische Arzt Gottfried Hertzka im Jahr 1970 in Konstanz die "Hildegard-Medizin". Gemeinsam mit einem Apotheker entwickelte er entsprechende heilkundliche, alternative Rezepturen. Die "Wunder" dieser Medizin blieben jedoch nicht ohne Kritik, zumal sie recht esoterisch orientiert ist.
Tinktur, Salbe und Tee: Trotzdem haben sie über den Weg des Marketings einen außergewöhnlich spannenden Siegeszug angetreten. Zitate der Worte von Hildegard werden gerne von Shops oder in Prospekten verwendet - möglicherweise ein wenig abgewandelt. Doch wen interessiert es - wenn's doch hilft...
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