Ichlinge: Aus dem Erfahrungsschatz einer Berichterstatterin

Samstag, den 19. Februar 2022 um 11:02 Uhr Gut zu wissen - Lifestyle
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Einseitige Kommunikation - Grafik (c) Brigitta Möllermann, HESSENMAGAZIN.de[Zwischenmenschliches] Eigentlich wollte ich in meinem nächsten Buch über "Nervensägen und andere Hexen" schreiben. Doch heute geht es erst einmal um die etwas harmlosere Variante, die Ichlinge - eine Art Egoist*innen, die einen nicht zu Wort kommen lassen und die die Welt prinzipiell von ihrer Warte aus sehen. Ein verlorerer Autoschlüssel ist für sie zum Beispiel ein Drama größeren Ausmaßes als ein Vulkanausbruch. Das Dings findet sich letztendlich zwar wieder ein, darüber wird aber mehr und wesentlich ausführlicher berichtet als über die Bedeckung La Palmas mit schwarzer Lava-Asche.

Es ist faszinierend, man hört den Ichlingen fast eine Stunde lang zu, versteht ihre Aufregung und denkt: "Ich lasse ihn / sie ausreden, dann geht's sicher wieder." Doch kaum hat man ihnen ein passendes Feeback gegeben ("Verstehe, habe auch mal den Hausschlüssel verloren..."), startet diese Sorte Mensch in eine neue Runde mit einer weiteren hochbrisant vorgetragenen Geschichte.

Das alles ist so weltbewegend für die Ichlinge, dass sie daraus wahrhaftige Breaking-News machen. Und während man beim höflichen Lauschen merkt, dass langsam der eigene Magen knurrt und man beginnt, draußen - wie festgenagelt am Gartenzaun - zu frieren, steigert sich das Gegenüber immer weiter in eine regelrechte Erzählhysterie hinein.

Nun wird klar: In all seiner Freundlichkeit hat man den Absprung verpasst. Das Mitleid ist nach fast zwei Stunden aufgebraucht und ganz plötzlich nimmt auch das Verständnis für die / den leidgeplagten Erzählenden schlagartig ab, weil man nun dringend zur Toilette muss.

Das ist der Zeitpunkt, zur Gegenwehr anzusetzen: Erzählen Sie eine eigene Geschichte!

Egal, was es ist, das Sie zu berichten hätten: Flugzeugabsturz überlebt / nach einer Gasexplosion drei Leute aus dem kaputten Haus gerettet / Vater und Mutter nach Jahrzehnten im Ausland wiedergefunden oder ein altes Auto über den TÜV gebracht, endlich den langwierigen Nachbarschaftsstreit beigelegt... oder gestern heimgelaufen, weil der Autoschlüssel beim Rodeln in einer Schneewehe verschwand...

Schon der Versuch, selbst etwas zu Gehör zu bringen, wird jeden Ichling garantiert veranlassen, das "Gespräch" zu beenden = wollte sowieso gerade nach Hause... Und Sie sind damit endlich aus der Klemme Küssend.


Was, wie, warum

Die schwatzhaften Ichlinge sind eigentlich bedauernswerte Menschen, die zu wenig erleben. Sie vergleichen sich insgeheim mit anderen, über die in den Medien Interessantes berichtet wird, und bauschen dann einfach ihre alltäglichen Erlebnisse auf. Als Publikum dient ihnen jeder willfährige freundliche Mensch, der bei ihnen für einen Moment stehen bleibt :-)

Übrigens: Das Wort Ichling geistert schon lange durch die Literatur und in letzter Zeit gleichermaßen durch die Medien. Es wird in unterschiedlicher Weise benutzt für Egoisten, Egomanen, Narzissten - Leute, die nicht teamfähig sind und denen es an Empathie sowie sozialer Kompetenz mangelt. Anstatt sich darum zu bemühen, selbst ein/e Held/in zu werden und große Taten oder wenigistens mal etwas wirklich Bemerkenswertes zu vollbringen, plappern sie sich gnadenlos in den Vordergrund.

Um dann - ohne befriedigenden Effekt  - beim nächsten zuhörenden "Opfer", das an ihrem Blabla nicht wirklich interessiert ist, wieder von vorne anfangen zu müssen...

So what.

Quelle: Brigitta Möllermann, HESSENMAGAZIN.de

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